Friday, May 20, 2016

BALLETT: PATRICK DE BANAs STILBILDENDE PSYCHOSTUDIE „MARIE ANTOINETTE“


Marie Antoinette (Olga Esina) führt am französischen Hof lange ein Leben mit sich selbst und ihren Interessen ...


... sowie auch Ludwig XVI. (Jakob Feyferlik) zuerst nur Eifersucht und Widerstand gegenüber seiner Ehe-arrangierten Gattin Marie Antoinette empfindet. (Bei dieser  Besetzung kommt hinzu, dass Feyferlik viel kindischer wirkt als Esina, was deren gegenseitiges Liebesgefühl für den Zuseher zusätzlich spaltet.)
Marie Antoinette wird von Jugend an vom ominösen Schicksal (Andrey Kaydanovskiy) verfolgt, das es mit ihrem Schicksal der königlichen Entsprechung nicht gut meint, sodass sie innerlich beinahe daran zerbricht.

Dabei hadert sie mit ihrer österreichischen Kaiser-Mutter Maria Theresia (Rebecca Horner), die mit dem Berater, dem Namenlosen (Attila Bakó), Druck auf die französische Königin ausübt.
Nachdem Marie Antoinette im Gefängnis mit sich und allen Einflüssen der ihr nahen Lebensmenschen ins Reine kommt – wie hier mit ihrem Ehemann Ludwig XVI. -, wird sie am Schafott hingerichtet. (Fotos © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor)


VOLKSOPER – WIENER STAATSBALLETT
PATRICK DE BANA HAT JENES STÜCK, DAS 2010 FÜR EIN ZEITGENÖSSISCHES AUFATMEN UNTER DEN WIENER KRITIKERN SORGTE, NEU VERFASST. DADURCH WURDE DER ANFANG MITREISSENDER, DER SCHLUSS ERSCHEINT EIN WENIG LÄNGER. INSGESAMT BLEIBT MARIE ANTOINETTE EIN STILBILDENDES MODERNES WERK, MIT DEM MAN SICH UNTER DEN FÜHRENDEN BALLETTHÄUSERN NICHT (MEHR) VERSTECKEN MUSS.


Marie Antoinette vom deutsch-nigerianischen Choreografen Patrick de Bana Hamburger Herkunft war jenes moderne Antrittsstück in der Volksoper, mit dem Ballettdirektor Manuel Legris 2010 seinen Einstand hinsichtlich des zeitgenössischen Balletts in Wien feierte. Die Spannung diesbezüglich war unter Österreichs Kritikern groß. Denn man war nach der frustrierend altbackenen Harangozó-Ära auf alles gefasst, nachdem mit jeder Uraufführung-Premiere jegliche Hoffnung auf eine führend-stilprägende zeitgemäße Ballettsprache aufs Neue zerschlagen worden war. Legris selbst galt nun vor allem als perfekt eleganter „Balletthistoriker“, der „Altes“ so detailliert tanzt und einstudiert, als hätte man das gerade jetzt erst erfunden. Sozusagen in Pariser Manier, und nicht in ungarisch-russischer, was schon mal per se fortschrittlich westlicher ist.

Dramaturgische Mängel behoben


Und dann tatsächlich: De Banas Marie Antoinette ließ die österreichischen Ballettkenner auch in zeitgenössischer Hinsicht aufatmen: dieses Stück war in der Konzentration auf den tänzerischen Seelenausdruck ein echter künstlerischer „Hit“. Selbst wenn man bemängeln musste, dass „das Thema über die französisch-österreichische Königin ein Tourismusklischee ist, Wien als Monarchen-Stadt zu präsentieren“ und „der Wechselablauf zwischen Hofszenerien und Schicksals- und Schattenduett anfangs platt vorhersehbar“ (Elfi Oberhuber, Kritik in Falter 48/10) begann ...

Nun, diese beiden Mängel sind nach der Neufassung vom 6.5.2016 vergessen: da sich einerseits Österreich in Flüchtlingszeiten wie diesen mehr denn je fragen muss, welche „eigene“ historische Geschichte es eigentlich für sein kulturelles Selbstbewusstsein erhalten soll, um als würdige Identität im globalen Weltgeschehen aufzufallen. Und weil Patrick de Bana selbst die Korrektur vorgenommen hat, die den Beginn der Psychostudie jetzt so konzentriert spannend macht, wie weitgehend den Rest der Tanzerzählung. Außerdem hat er durch den zeitgenössischen Komponisten Carlos Pino-Quintana eine gegenwärtigere Techno-Anmutung zu den unheilbringenden Duetten von „Marie Antoinettes Schatten“ (fein: Solotänzerin Alice Firenze) und „Schicksal“ (ausdrucksvoll: Halbsolist Andrey Kaydanovskiy) gefunden als es zuvor die Auftragsmusik Luis Miguel Cobos suggerierte.

Konzentration auf die Psyche


Fesselnd an dem Werk ist allerdings nach wie vor jenes Detail, das sich auf mehreren Ebenen herausschält. Und zwar das Thema der Empathie, das je nach Einflussnahme oder Ablehnung der Charaktere hinsichtlich gegenseitigen Verständnisses sowohl durch die symbolischen Kostüme (von Agnès Letestu) als auch die Tanzsprache seine stetige Wandlung erfährt. Weshalb es auch so zu rühren vermag, den Zuschauer, der in die leidvolle Geschichte der Königin hineingezogen wird. Durch die geradezu zärtlich genaue Anwendung wie beispielsweise des Tanzvokabulars der Kontaktimprovisation, die in ihrer Aussagekraft schlechthin für Verantwortung und bedingungsloses Vertrauen steht, wenn sich Marie Antoinette nach anfänglicher Eigenbrötlerei doch von ihrem Mann Ludwig XVI. führen lässt, den sie ja auf Befehl ihrer Mutter aus Staatsbeziehungsgründen heiraten musste: auf Befehl der österreichischen Kaiserin Maria Theresia (modern-expressivste und außergewöhnlichste Erscheinung des Abends: Halbsolistin Rebecca Horner im ungemein erweiterten Rollendebut nach der gediegenen Dagmar Kronberger 2010).

Besetzung: Chance für junge Tänzer


Konkret geht es also um die Seelenentwicklung der Marie Antoinette (wie immer schön anzusehen: die perfekte und für das Klassische ebenso wie für das Moderne geeignete Erste Solotänzerin Olga Esina), die schon als junges, verträumtes Mädchen im hellblauen kurzen Reifröckchen-Kleid am Wiener Hof deplatziert wirkt, wo alle schwarz-weiß tragen, allen voran Mutter Maria Theresia im knöchellangen schwarzen Samt. Schon hier sind die ominösen schwarzen Gestalten da, Marie Antoinettes schattiges Alter Ego und das Schicksal, die just in jener Zeit, wo die französische Revolution zu rumoren beginnt, für Monarchen nichts Gutes bedeuten. Das drückt deren radikale, ruckartige Tanzsprache aus, wo plötzlich angehaltene Zeitlupen-Bewegungen auf prinzipieller Neoklassizismus- und Modern-Dance-Basis eine disharmonische Zukunft voraussagen. Noch vor ihrem fünfzehnten Geburtstag 1770 wird die Prinzessin mit dem um ein Jahr älteren französischen Thronfolger Ludwig XVI. vermählt. 



In Versailles Spiegellandschaft bekommt Marie Antoinette ein weißes Spitzen-Tutu mit Zacken-Saum verpasst, während nun der junge König im Frack die „blauäugige“ Farbe von Marie Antoinettes Wiener Outfit und die meiste Zeit auch nur die kurze hellblaue Unterhose unter dem Gilet trägt, sodass er wesentlich unreifer, trotziger - wenn nicht sogar lächerlich - wirkt als sie. Bekräftigt wird dieser Eindruck noch wegen der Verkörperung durch den blutjungen Corps-de-Ballet-Tänzer Jakob Feyferlik, der als gebürtiger Österreicher eine Tänzer-Hoffnung sein mag, jedoch an die mystisch-aristokratische, unverstandene Ausstrahlung Roman Laziks nicht heran kommt, insbesondere in dieser Rolle und im Duett mit Esina. (Der Erste Solotänzer Lazik war 2010 Ludwig XVI., den er wohl am stärksten in seiner Laufbahn meisterte und tritt jetzt alternierend auf; Feyferlik wird im Gegenzug auch mit der jungen Österreicherin, Halbsolistin Natascha Mair, kombiniert, was besser harmonieren sollte.)

Wer beeinflusst wen?




Umgeben sind die Eheleute von einer dekadent schwebenden französischen Aristokratie in luftig-leichten modischen Gewändern von türkis, grün, lila und rot.  Schnell wird klar, dass die Beiden die erste Zeit nicht allzu viel miteinander anfangen können: sie flirtet (tanzt) mit dem schwedischen Diplomaten Axel von Fersen (Rollendebut vom passablen Leonardo Basilio, Corps de Ballet), er umgibt sich mit seiner jüngsten Schwester, Madame Elisabeth (unaufgeregt routiniert: Erste Solotänzerin Ketevan Papava). – Deren harmonische Duette stehen für ein echtes zwischenmenschliches Verständnis, während Ludwig Marie Antoinette vorwurfsvoll und eifersüchtig begegnet, und Marie Antoinette Ludwigs Wohlwollen sucht, aber nicht erhält. Was Elisabeth und Marie Antoinette wiederum verbindet, sind deren Spitzenschuhe (ein neues Detail der Neufassung), wovon sie sich von der übrigen Gesellschaft sowohl in elitär künstlerischer, als auch in klassenkämpferischer Hinsicht unterscheiden. 



Im Zuge der Zeit vermag es Marie Antoinette die französische Hofgesellschaft so weit zu beeinflussen, dass jetzt auch jene die weißen, leichten Kleider der Königin trägt. Gleichzeitig steht das aber auch für das „durchsichtig werden“ der Aristokratie, die zerbricht, während Ludwig an der Bühnenkante sitzt und traurig ins Publikum blickt. Neben Schicksal und Schatten sucht Marie Antoinette der Geist ihrer inzwischen verstorbenen Mutter Maria Theresia heim, sowie deren Vertrauter „Der Namenlose“ (neu und gut: Attila Bakó, Corps de Ballet).  Die Ambivalenz von einem von ihnen ausgehenden Ruf nach Verantwortung und Schuldzuweisung und dem gleichzeitig wachsenden Verständnis und Mitgefühl gegenüber Marie Antoinette ist die sensibel transportierte Botschaft, die sich letztlich in Marie Antoinettes Innerem abspielt. Schließlich kommt es zu einem Versöhnungstrio zwischen Mutters Geist, Tochter und Schwiegersohn. – Allerdings zu spät: Zettel der Revolution fliegen vom Himmel, und es bleibt nur die Flucht.

Alle gegen einen und „alle“ regieren die kunstarme Welt




Die revolutionären Bürger, die in der Folge die Regierung übernehmen, erweisen sich als schicke schwarze Anzug-Gesellschaft von heute, die nicht davor zurückscheut, mit äußerster Brutalität aller gegen einen (Ludwig XVI.) einzuschlagen. Das Schicksal trägt jetzt einen blutroten Mantel, während Gefängnispfeiler von der Decke herab ragen. Auf zwei gläsernen Stühlen verbringt Marie Antoinette ihre letzte Zeit der Introspektion mit Schatten, Mutter, Elisabeth, Axel von Fersen, Schicksal – und Ludwig, mit dem sie am Ende doch eine sehr innige Liebe verbindet. Dass er bereits am Schafott hingerichtet wurde, wird nicht gezeigt. Bevor nun aber Gleiches Marie Antoinette blüht, zieht sie ihre Spitzenschuhe aus, was denn wohl neben dem Ende der Monarchie auch jenem der künstlerisch äußerst produktiven Ära des Rokoko gleich kommt.  e.o.

DAS URTEIL PATRICK DE BANA ZEIGT, DASS DIE PSYCHE EINES DER AUFREGENDSTEN THEMEN DES MENSCHEN IST. ER SAGT DAS IN EINEM THEATRALEN GESAMTKUNSTWERK MIT MODERNER TANZSPRACHE, DIE ZUGLEICH SCHÖN UND SPANNEND IST.
– IM CHOREOGRAFISCHEN NIVEAU EINE WÜRDIGE NACHFOLGE VON GIORGIO MADIA (2003-2005), DER VIEL ZU FRÜH GEHEN MUSSTE, UND EIN MEILENSTEIN NACH GYULA HARANGOZÓ (2005-2010).



BALLETT Marie Antoinette * Choreographie und Inszenierung: Patrick de Bana * Dramaturgische Vorlage: Jaime Millás * Musik: Georg Philipp Telemann, Antonio Vivaldi, Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Christian Bach, Jean-Philippe Rameau, Jean-Féry Rebel und eine Auftragskomposition von Carlos Pino-Quintana * Bühnenbild: Marcelo Pacheco, Alberto Esteban/Area Espacios Efimeros * Kostüme: Agnes Letestu * Licht: James Angot * Marie Antoinette: Olga Esina / Natascha Mair  / Maria Yakovleva * Ludwig XVI.: Jakob Feyferlik  / Vladimir Shishov / Roman Lazik * Madame Elisabeth: Ketevan Papava / Nina Tonoli / Oxana Kiyanenko * Das Schicksal: Andrey Kaydanovskiy / Francesco Costa * Schatten der Marie Antoinette: Alice Firenze / Kiyoka Hashimoto / Nikisha Fogo * Axel von Fersen: Leonardo Basílio / Kamil Pavelka / Alexandru Tcacenco * Maria Theresia: Rebecca Horner / Laura Nistor / Erika Kováčová * Der Namenlose: Attila Bakó / James Stephens * Corps de Ballet Wiener Staatsballett * Ort: Wiener Volksoper * Zeit: Wiederaufnahme: Freitag, 6., 9., 17., 23. Mai, 16., 21., 27. Juni 2016, 19h